Ein Gastbeitrag von Sarah Kleiner
„Wenn uns gewisse Versionen selbstversunkener moralischer Befragung auf einen Narzissmus zurückwerfen, der durch die gesellschaftlichen Tendenzen zum Individualismus noch verstärkt wird, und wenn dieser Narzissmus zu einer Form von ethischer Gewalt führt, die in der Frage von Selbstannahme oder Vergebung keine Gnade kennt, dann scheint es geboten, wenn nicht gar von höchster Dringlichkeit, die Frage der Verantwortung auf die Frage zurückzulenken, wie wir von der sozialen Welt geformt werden – und zu welchem Preis.“[1]
Das Messen mit zweierlei Maß
Jedes Leben zählt. Immer wieder wurde er in den vergangenen zwei Jahren bemüht, dieser Satz. Er wurde herangezogen, Maßnahmen zu rechtfertigen, die wir ohne den erhobenen moralischen Zeigefinger niemals bereit gewesen wären, zu akzeptieren. Jedes Leben zählt, weshalb wir bereit waren, die Alten wochenlang in Einzelzimmern zu isolieren und sie alleine, in Abwesenheit von Familien und Freunden, sterben zu lassen. Jedes Leben zählt, weshalb wir unsere Kinder entwurzelt haben, sie alleine in ihre Zimmer gesetzt, alles versucht haben, zu verhindern, dass sie geistig und emotional in immer tiefer werdende Löcher fallen. Jedes Leben zählt, weshalb manche sogar bereit waren, eine Impfverpflichtung hinzunehmen, gar zu unterstützen und zu verteidigen.
In dieser Pandemie und im Zuge ihrer Bekämpfung hat vor allem ein charakteristisches Merkmal der Gesellschaft einen glorreichen Siegeszug gefeiert: die Doppelmoral. Das Messen mit zweierlei Maß lag der Spezies Mensch schon immer gut, denken wir an die „Glaubenskriege“ des Mittelalters oder auch an den „Global War on Terror“ eingeleitet von Georg W. Bush oder an unser zwiespältiges Verhältnis zum Klimaschutz. „Kapitalismus ist schlecht, aber bei Amazon bestellen ist wirklich unkompliziert.“ Oder: „Fliegen ist nicht gut für die Umwelt, aber wir wollen heuer wieder nach Thailand. Die Strände sind so schön – und es gibt gar keine Touristen.“
In der Pandemie hat die Doppelmoral für mich schon fast unerträgliche Dimensionen angenommen, sektenhafte. „So Corona will, werden wir uns bald treffen können“, schreiben da manche Menschen in Konversationen, ohne sich bewusst zu machen, wie sehr unser soziales Miteinander inzwischen schon von Testergebnissen abhängt, die über gesund und ungesund teilweise nichts mehr aussagen. Wir alle sind zu Jüngern Coronas geworden mit dem höchstpersönlichen Auftrag, unsere virenschleudernden Körper in Einzelhaft zu begeben und da auch zu bleiben, gleichzeitig sollen wir uns als solidarischen Teil des Kollektivs betrachten. Wir sind alle isoliert, aber alle miteinander verbunden; wir schauen aufeinander, ohne uns zu sehen. Wir sind damit nicht glücklich, aber: jedes Leben zählt.
Menschen, die sich noch nie groß Gedanken um ihre Gesundheit gemacht haben, avancierten plötzlich zu Gesundheitsaposteln. Erinnern Sie sich noch an Situationen – vor Corona – als Sie das Büro oder ihre Arbeitsstätte betraten und eine Kollegin saß mit triefender Nase da und sagte, vielleicht noch stolz auf ihre ordentliche Arbeitsmoral, „Mir geht’s furchtbar, ich glaub ich werd' krank“? Vor der Pandemie war es vielen Arbeitgebern völlig egal, wenn man mit Symptomen einer etwaigen Infektion in die Arbeit kam – Hauptsache, man arbeitete, und zwar ungeachtet dessen, ob man ältere oder vorerkrankte Kollegen hat, für die jede Art von Infektion schwerwiegende Folgen haben könnte, und ungeachtet dessen, ob die eigene Erkrankung bewirkt, dass in der folgenden Woche drei weitere Kollegen krank zu Hause liegen. Die Schuldfrage wurde nicht gestellt – weder bei Erkrankungen, die harmloser waren, als Covid-19, noch bei denen, die gefährlicher waren.
Menschen, die selbst jahrelang vehement die Ausgrenzung von diversen Bevölkerungsgruppen aufgrund von äußerlichen Merkmalen oder ihrer Herkunft forderten, fühlen sich nun als Ungeimpfte diskriminiert – und demonstrieren für Gleichheit. Rechtsextreme und Neonazis proklamierten jahrelang die gesellschaftliche Ausgrenzung von Minderheiten, Migranten und Flüchtenden und spüren nun am eigenen Leib, wie es sich anfühlt, wenn ein großer Teil der Gesellschaft dich nicht respektiert und deine Rechte beschneiden will. Und es gefällt ihnen gar nicht. Dennoch marschieren sie mit Bannern á la „Stoppt den großen Austausch“ an der Spitze des breiten Protests – blind für die Doppelmoral, die sie damit vor sich hertragen.
Und frühere Menschenrechtler, linke Aktivistinnen und Aktivisten, die die Freiheit und Gleichheit aller Menschen postulierten, den Staat und die Großindustrie verbal in die Mangel nahmen, wurden zu Diffamierern und Diskriminierern derer, die diese Freiheit leben und selbständig Entscheidungen über ihre Gesundheit treffen wollen, die Big Pharma kritisieren und hinterfragen, was die Industrie mit der Gesetzgebung zu tun hat. Andere replizieren wahnwitzige Theorien, geben antisemitische Parolen von sich, entfernen sich ungeniert und immer mehr von einer rationalen Erklärung für die aktuellen Vorgänge. Und Leute, die sich aufgrund eines aufrichtigen Vertrauens in Politik und Wissenschaft und aus Sorge um ihre Mitmenschen mehrmals geimpft haben, wurden als systemtreue Schafe verlacht. Wo sind wir gelandet?
Von der Moral zur Doppelmoral
Moral ist strukturell bedingt immer Doppelmoral. Es gibt jene, die sich an sie halten, die dazugehören, die ihre auf Werten basierende Existenzberechtigung anerkennen, und die anderen. Die Gefährder. Die Egoisten. Theodor Adorno setzte sich in seiner Vorlesung „Probleme der Moralphilosophie“ mit der Gewalt einer Ethik auseinander, die einen Universalitätsanspruch stellt. „Was das Zentralproblem jeder Moralphilosophie ausmachen muß, ist das Verhältnis zwischen dem Besonderen, den besonderen Interessen, den Verhaltensweisen des einzelnen, besonderen Menschen und dem Allgemeinen, das dem gegenübersteht.“[2]
Mir persönlich scheint, ebendieses Besondere, die Einzelinteressen und individuellen Beweggründe, warum jemand in bestimmtem Ausmaß gewisse Dinge glaubt und andere nicht, sind in den vergangenen zwei Jahren völlig abhandengekommen. Menschen, die wegen einer Atemwegserkrankung mittels ärztlichem Attest vom Tragen der Maske befreit wurden, wurden im öffentlichen Raum genauso angefeindet, wie jene, die sie aus Ignoranz nicht tragen. Jene, die sich aus gesundheitlichen Gründen nicht impfen lassen können, wurden argwöhnisch beäugt, „kannst du denn nicht oder willst du einfach nicht?“, sie mussten sich rechtfertigen und waren vom Stempel des „egoistischen Ungeimpften“ genauso betroffen, wie jene, die sich aus schierer Gleichgültigkeit nicht einmal mit der Frage der Impfung auseinandersetzten.
In ewig gleichen Diskussionen wird seit zwei Jahren das Für und Wider dieser und jener Handlungen und Beschränkungen argumentiert. Stets läuft man als Kritiker diverser politischer – auch nachweislich nicht evidenzbasierter – Entscheidungen Gefahr, als Menschenfeind oder rechtsextrem angeprangert zu werden. Wer nicht blind alles akzeptiert, dem wird unterstellt, dass ihm gar kein Leben am Herzen liegt. Die Moral ist gewaltvoll geworden, „die Wahrheit“ löst sich in den endlosen Diskussionen, in die eine unüberblickbare Menge an Informationen miteinfließen, auf.
Gesundheitspolitische Doppelmoral
Ein Kern der Doppelmoral, die mir am Anfang der Pandemie persönlich besonders übel aufgestoßen ist, liegt in der Gesundheitspolitik der Österreichischen Volkspartei. Nehmen wir das Beispiel Pestizide. Glyphosat ist ein Totalherbizid, das bestimmte Pflanzen tötet, die in seinen Dunstkreis geraten. Während in den USA aufgrund der vermuteten krebserregenden Wirkung seit 2018 tausende Schadenersatzklagen, teils im dreistelligen Millionenbereich, von Nutzern des glyphosathaltigen Unkrautvernichters „Roundup“[3] angestrebt werden, wird diese Wirkung in Österreich noch angezweifelt. Im 10-Jahres-Schnitt kommen in Österreich etwa 329 Tonnen auf Österreichs Äckern und Grünflächen zum Einsatz, der Großteil in der Landwirtschaft[4]. Während Studien zeigen, dass 93 Prozent der Bevölkerung gegen den Einsatz dieses Herbizids in der Lebensmittelproduktion sind, wehrte sich die Volkspartei und mit ihr die Landwirtschaftskammer erfolgreich gegen ein nationales Totalverbot[5]. Gekommen ist im vergangenen Jahr ein Teilverbot im öffentlichen Raum und bei Hobbygärtnern[6].
Dass 42.000 Menschen[7] im Jahr in Österreich an Krebs erkranken, war bisher nicht Grund genug, in diesem Bereich effektive Restriktionen durchzusetzen. Während zahlreiche unabhängige Studien die krebserregende Wirkung von Glyphosat eindeutig erkennen, werden ausschließlich von der Industrie beauftragte Studien zur Rechtfertigung des weiteren Einsatzes des Mittels herangezogen. (Dargelegt wurde das beispielsweise von einem breiten Bündnis von Umwelt-NGOs in dem gemeinsamen Positionspapier „Glyphosat und Krebs: Gekaufte Wissenschaft“[8]) Dass jährlich etwa 10.000 Menschen an Diabetes sterben[9], war bisher nicht Grund genug, eine Zuckersteuer einzuführen und damit stark zuckerhaltige Lebensmittel und Getränke im Supermarkt zu verteuern. Und dass die Klimakatastrophe das Potenzial birgt, Millionen von Menschen weltweit das Leben zu kosten, hat bisher kaum zu tatsächlich effektiven Maßnahmen geführt, einen nachhaltigen Lebensstil zu etablieren.
Und dann im März 2020 sagt mir die ÖVP in der Regierung, ich muss mir eine Maske aufsetzen, um mir im Supermarkt das chemisch verseuchte Gemüse zu kaufen. Auf einmal war der große Einschnitt in die Freiheit des Marktes und der Menschen, der beim Klimaschutz oder anderen gesundheitspolitischen Maßnahmen als Ausschlussgrund herangezogen wird, vertretbar. Dieselbe Partei, die sich jahrelang für Einsparungen im Gesundheitssektor stark machte, für Effizienzlogik und Profitmaximierung, Privatisierung der Pflege, macht sich auf einmal Sorgen um die Überlastung von Spitälern, weigert sich aber gleichzeitig, das Gesundheitssystem breit auszubauen. Ich muss zugeben: ich war verwirrt.
Aber wenn ich diesen offenen und belegbaren Widerspruch kundtat, wurde das – wie jegliche Systemkritik, jegliche kritische Hinterfragung der Mechanismen und Prozesse der Pandemiebekämpfung, die uns bis zu einer Impfpflicht geführt haben – als irrationale „Schwurbelei“ abgetan. Im öffentlichen Raum nahm das erschreckende Ausmaße an, wo Top-Virologen, international anerkannte Mediziner und Forscher ins rechte Aluhut-Eck gestellt wurden, wenn sie auch nur die leiseste Kritik äußerten, und sei sie noch so sachlich formuliert, noch so sehr mit Studien untermauert oder schlichtweg logisch gewesen.
Inzwischen forderten sogar Mitglieder des EU-Parlaments den Rücktritt von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Warum? Einleitend fasst es der litauische Parlamentarier, Mitglied der Europäischen Grünen/EFA, Stasys Jakeliūnas bei einer Pressekonferenz vor einigen Wochen[10] so zusammen: „The President of the European Commission Ursula von der Leyen is part of a gigantic Covid-19 scientific fraud and propaganda campaign that caused and continues to cause massive violations of human rights, freedom and is a threat to the democracy in Europe.” Weiters begründet das parlamentarische Bündnis die Forderung damit, dass von der Leyen direkt vor Abschluss der Kaufverträge für die Impfstoffe in privatem Kontakt mit Firmenvertretern von Pfizer getreten war und sich weigert, die Kommunikation offenzulegen. Auch die New York Times berichtete[11] über den 1.8 Milliarden-Impfdosen-Deal, den die Präsidentin der europäischen Kommission in privaten Chats unter anderem direkt mit dem CEO von Pfizer aushandelte. Außerdem, so Jakeliūnas, sei es eine Lüge, wenn von der Leyen behaupte, dass die Impfung der einzige Weg aus der Pandemie sei. „There have been efficient and not expensive medical treatment protocols from the start of the pandemic.” Nicht zuletzt sei ein Interessenskonflikt bei von der Leyen zu untersuchen, nachdem ihr Ehemann Heiko medizinischer Direktor des bio-pharmazeutischen Unternehmens Orgenesis Inc. ist, das zu Immun- und Gentherapie forscht.
Das sind Vorwürfe von EU-Parlamentariern; von Menschen, die fundiertes Hintergrundwissen rund um die Gesetzgebungsprozesse und politischen Entscheidungen von Parlament und Kommission der EU haben. Wie vermessen ist es von unserer Politik und unseren Medien, Bürger, die diese Vorwürfe ihrer Repräsentanten wiederholen, als irrationale Spinner zu diskreditieren?
Coronatote vs. Impftote vor dem Hintergrund der Impfpflicht
Eine besonders perfide Messung mit zweierlei Maß, die mich persönlich teils in tiefe Depressionen katapultiert hat, betrifft die Erhebung der Zahlen, auf Basis derer wir unsere Meinung bilden. Wird man vier Wochen vor seinem Tod positiv auf das Coronavirus getestet, so zählt man als Coronatoter, auch wenn eine völlig andere Todesursache vorliegt – der alte „an“ und „mit“ Konflikt, Sie kennen das.[12] Wenn der Tod in unmittelbarer zeitlicher Nähe zu einer Impfung erfolgt, gilt man hingegen nicht automatisch als Impftoter. Werfen wir deshalb einen Blick in die regelmäßigen Berichte des BASG – des Bundesamtes für Sicherheit im Gesundheitswesen.
Zwischen Dezember 2020 und Februar 2022 war bei 2.331 Patient:innen im zeitlichen Zusammenhang mit der Covid-19-Impfung ein Krankenhausaufenthalt erforderlich oder ein solcher wurde verlängert. Etwa ein Drittel davon ist wieder genesen, beim Rest ist die Abklärung noch nicht abgeschlossen bzw. konnten keine weiteren Informationen eingeholt werden. Weiters heißt es: „Bisher wurden in zeitlicher Nähe zu einer Impfung gegen COVID-19 243 Fälle einer Herzmuskelentzündung gemeldet (193 BioNTech/Pfizer, 25 Moderna, 17 AstraZeneca und 8 Janssen). Davon ist eine 81-jährige Patientin mit Multiorganversagen verstorben, eine weitere 88-jährige Patientin starb infolge einer Herzinsuffizienz. Bei einer 71-jährigen Patientin führte die Herzmuskelentzündung zum Tod, die Frage der Kausalität ist derzeit nicht geklärt. Bei einem 73-jährigem Patienten, bei welchem das Guillain-Barré-Syndrom als vermutete Todesursache angegeben wurde, wurde eine Herzmuskelentzündung begleitend diagnostiziert (alle nach Impfung durch BioNTech/Pfizer). Auch bei einem 33-jährigen Patienten, welcher in zeitlicher Nähe zur Impfung verstarb, wurde eine Myokarditis diagnostiziert, diese war jedoch laut Obduktionsbericht nicht ursächlich (AstraZeneca). Ebenso bei einem 17-jährigen Patienten, welcher in zeitlicher Nähe zur Impfung verstarb, wurde begleitend eine Myokarditis festgestellt, diese war jedoch laut Obduktionsbericht nicht ursächlich (Comirnaty). Bei 96 Patient:innen konnte der Gesundheitszustand wiederhergestellt werden, 147 weitere sind noch in Abklärung.“[13] Und so fort.
273 Todesfälle in zeitlicher Nähe zu einer Covid-19-Impfung verzeichnet das BASG im selben Bericht. 210 davon sind noch in Abklärung bzw. fehlen Informationen, um überhaupt eine Einschätzung treffen zu können. Nur bei zwei Personen wurde ein kausaler Zusammenhang zwischen Impfung und Tod bisher offiziell anerkannt. Wären denn nach Logik der Zählung Coronatoter nicht alle Menschen Impftote, die innerhalb von vier Wochen nach der Impfung versterben – ungeachtet ihrer Vorerkrankungen und Nebendiagnosen?
Aber auf einmal heißt es in Diskussionen um die Impfpflicht jetzt, so lange durch die Impfung weniger Menschen sterben, als durch Covid-19, ist sie gerechtfertigt. Zählt denn nun nicht mehr jedes Leben?
„Bei einem 12-jährigen kam es am Tag nach der Impfung (BioNTech/Pfizer) zu einem Kreislaufstillstand unklarer Genese, welcher als lebensbedrohend gemeldet wurde. Der Patient verstarb 3 Tage später. Eine Obduktion wurde durchgeführt, eine abschließende Bewertung ist derzeit noch nicht möglich.“[14]
Dieser Todesfall ist keiner der zwei anerkannten. Was sagt man der Mutter dieses 12-jährigen Buben? Dass er nicht zählt? Dass er, wenn die Impfung der Grund für seinen Tod war, als Held gestorben ist, weil er ... ja, was?
Die grundlegende Frage in Bezug auf die spezielle Covid-19-Impfpflicht ist: Was macht es aus einem Staat, wenn er wissend, dass eine medizinische Behandlung zum Tod führen kann, eine Verpflichtung einräumt, sie in Anspruch zu nehmen? Ob ein Mensch durch ein Virus stirbt, dass die Gesellschaft durchwandert, manche mitreißt und manche nicht, oder ob er durch eine verpflichtende Impfung stirbt, die geahndet wird mit Geldstrafen, mit sozialer Ächtung, weiterer Isolation; macht für mich persönlich einen großen Unterschied, moralisch. Ich persönlich finde, die Impfung muss eine freie Entscheidung bleiben, solange auch nur das geringste Risiko besteht, dass sie einem Menschen schaden oder gar töten kann. Das Aussetzen der Impfpflicht war in meinen Augen die einzig richtige Entscheidung, nun wird der Verfassungsgerichtshof urteilen, inwieweit sie eine Gefahr für Mensch und Demokratie darstellt.
Die Demonstranten, die wir wöchentlich auf den Straßen sahen und sehen – pauschal unter dem Begriff „Impfgegner“ subsumiert und als rechtsextreme Aluhut-Esoteriker abgekanzelt – kämpften in ihren Augen gegen ein totalitäres Gesundheitsregime. Klar, die Abwesenheit von Demokratie ist nicht automatisch Diktatur. Aber was hat es noch mit demokratischer Repräsentation zu tun, wenn 50.000 Menschen sich jede Woche auf den Straßen versammeln, dutzende Kundgebungen anmelden, „Widerstandsgruppen“ bilden, Ärzte, Pflegekräfte, Lehrer, Polizisten sich zur Wehr setzen, eine internationale Vernetzung stattfindet und dieser Wille der Bevölkerung dann als unwissenschaftliche „Schwurbelei“ ignoriert wird? Wenn gar alle als rechtsextrem beschimpft werden? Wie vermessen ist es, zu behaupten, dass sie alle einfach nur „falsch“ informiert sind?
Das „Richtige“ und die Wahrheit
Wir alle glauben, im Namen Coronas das „Richtige“ zu tun, egal wie wir auf diese Pandemie reagieren. Ob wir uns testen lassen oder nicht, ob wir Maske tragen oder nicht, ob wir demonstrieren oder nicht – alle wähnen sich im Recht, als Ritter und Verteidiger der einzig „richtigen“ Wahrheit. Wir haben alle die einzig „richtigen“ Quellen zu unserer Meinungsbildung herangezogen und ausschließlich jene Erfahrungsberichte gesammelt, die uns die Situation „wahrheitsgemäß“ einschätzen lassen. Auf die Studien, die der eine heranzieht, um zu zeigen, dass durch die Impfung schwere Verläufe verhindert werden, zückt der andere eine Studie, die sagt, dass sie den DNA-Reparaturmechanismus des Körpers beschädigt[15]. Während der eine die Lockdowns als alternativlos erachtet, um Leben zu retten, weist der andere darauf hin, dass sich die Suizidrate bei Jugendlichen verdoppelt hat[16].
Die Wissenschaft ficht seit zwei Jahren vor unserer aller Augen aus, wie gefährlich Covid-19 ist und wie nützlich oder schädlich die Impfstoffe sind. Aber allgemein gültige Antworten hat sie nicht. Allein ihre Ergebnisse gereichen uns Jüngern als Glaubenssätze – je nachdem, was wir gerade belegen wollen. Mittlerweile kennen wir wohl alle diese Diskussionen. Und alle Kritiker bauen ihre Argumente auf Quellen und Erfahrungsberichten auf, ebenso wie jene, die in der Impfung und in dem neuen gesundheitspolitischen Kurs, den sie darstellt, nichts Bedrohliches sehen.
In ihrem Buch „Kritik der ethischen Gewalt“ argumentiert Judith Butler, dass die Anerkennung unserer Mitmenschen uns dazu verpflichtet, „Urteile auszusetzen, um den Anderen überhaupt erst einmal zu erfassen. […] Ein Weg zu Verantwortlichkeit und Selbsterkenntnis eröffnet sich nun eben durch jene Art von Reflexion, die mit einem Aufschub des Urteilens einhergeht. Die Verdammung, die Anprangerung, die vernichtende Kritik fungieren als Arten und Weisen, sehr rasch eine ontologische Differenz zwischen Urteilendem und Beurteiltem herzustellen, ja, sich selbst vom Anderen zu reinigen. Somit dient uns die Verurteilung dazu, den Anderen zum Nichtanerkennbaren zu machen oder einen Aspekt unserer selbst abzuspalten und dem Anderen zuzuschreiben, den wir dann verdammen. In diesem Sinne kann die Verurteilung der Selbsterkenntnis entgegenarbeiten, sofern sie ein Selbst mittels einer Verleugnung unserer Gemeinsamkeit mit dem Beurteilten moralisiert.“[17]
Ich denke, keiner kann von sich behaupten, nicht manchmal Doppelmoral zu üben, weder ich selbst, noch Sie, werter Leser. Eine Freundin sagte mir kürzlich, wenn man mit dem Finger auf andere zeigt, übersieht man, dass bei der Geste auch immer drei Finger auf einen selbst gerichtet sind. Vielleicht täten wir deshalb einfach besser daran, den moralischen Zeigefinger zu senken und wieder mit Respekt und Ernsthaftigkeit auf die Wahrheit, die Realität des anderen, zu reagieren.
Sarah Kleiner ist freie Journalistin und arbeitet in Wien.
[1]Judith Butler, "Kritik der ethischen Gewalt", Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003, 2007. S.62 ff. [2]Theodor Adorno, "Probleme der Moralphilosphie", Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1996, S.30. [3]gegen den Hersteller Monsanto (seit 2016 eingegliedert in die Bayer AG) [4]https://egz.at/pdfs/0e27f/Machbarkeitstudie-zum-Glyphosatausstieg.pdf, abgerufen am 23.03.2022. [5]https://www.derstandard.at/story/2000120890613/glyphosat-gegner-beissen-bei-oevp-auf-granit, abgerufen am 23.03.2022. [6]https://www.derstandard.at/story/2000126380141/glyphosat-verbot-fuer-private-und-sensible-flaechen-kommt, abgerufen am 23.03.2022. [7]http://www.statistik.at/web_de/statistiken/menschen_und_gesellschaft/gesundheit/krebserkrankungen/index.html, abgerufen am 23.03.2022. [8]https://www.bund.net/fileadmin/user_upload_bund/publikationen/umweltgifte/Glyphosat_und_Krebs_Gekaufte_Wissenschaft_BUND_23032017.pdf, abgerufen am 23.03.2022. [9]https://www.facediabetes.at/zahlen-und-fakten.html, abgerufen am 23.03.2022. [10]https://www.youtube.com/watch?v=qhe20QRG_Rw, abgerufen am 23.03.2022. [11]https://www.nytimes.com/2021/04/28/world/europe/european-union-pfizer-von-der-leyen-coronavirus-vaccine.html, abgerufen am 23.03.2022. [12]https://kurier.at/chronik/oesterreich/ministerium-stellt-zaehlweise-bei-coronavirus-todesfaellen-um/400991600, abgerufen am 23.03.2022. [13]https://www.basg.gv.at/fileadmin/redakteure/05_KonsumentInnen/Impfstoffe/Bericht_BASG_Nebenwirkungsmeldungen_27.12.2020-25.02.2022_BTVI.pdf, S.7, abgerufen am 23.03.2022. [14]Ebd. [15]https://perma.cc/QK3X-QHEQ?type=image, abgerufen am 23.03.2022. [16]https://wien.orf.at/stories/3132111/, abgerufen am 23.03.2022. [17]Judith Butler, "Kritik der ethischen Gewalt", Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003, 2007. S.62 ff.
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