Jan David Zimmermann
„Aber ich glaube fast, wir sind allesamt Gespenster, Pastor Manders. Es ist ja nicht nur, was wir von Vater und Mutter geerbt haben, das in uns herumgeistert; auch alte abgestorbene Meinungen aller Art, alte, abgestorbene Überzeugungen und Ähnliches.“ - Henrik Ibsen, Gespenster.
Ethik und Vergangenheitsbewältigung
Nach den letzten Beiträgen, die sich zum großen Teil mit der gesellschaftlichen Situation der Gegenwart befassten, soll nun ein Schlaglicht auf die Wissenschaft und ihre Geschichte geworfen werden. Wie geht die Wissenschaft mit ihrer Vergangenheit, mit ihrem „Erbe“ um? Was bedeutet das mitunter für gegenwärtige Forschung? Was bedeutet das für die Zusammensetzung des wissenschaftlichen Wissens, also hinsichtlich der wissenschaftlichen Inhalte? Kommt es zu Brüchen, oder werden (fragwürdige) Traditionen weitergeführt? Wenn die Wissenschaft in Verbrechen involviert war, man es also mit einer belasteten Geschichte zu tun hat: Wie reagiert man darauf? Und was passiert mit wissenschaftlichen Sammlungen, die in problematischen historischen Zusammenhängen entstanden sind?
Bei all diesen Problemlagen stellen sich übergeordnet folgende zwei Fragen unmissverständlich:
1.) Wer übernimmt Verantwortung, wenn wissenschaftliche Disziplinen und ihre Protagonisten in der Vergangenheit in problematische, gar verbrecherische Handlungen involviert waren und welche Konsequenzen ergeben sich daraus?
2.) Werden ethische Grundprinzipien gegenwärtiger Forschung auch wirklich eingehalten?
Wissenschaftsethische Fragen solcher Art sind in unterschiedlichen Bereichen und Kontexten der Wissenschaft (von der Medizin und Biologie zur Geschichtswissenschaft bis hin zur Sprachwissenschaft) von Relevanz[1] wurden aber auch in den Bereichen Film, Literatur und Kunst vielfach thematisiert und besprochen[2].
Gleichzeitig – auch wieder mit Verweis auf das künstlerische Thematisieren „böser“ Wissenschaft – sind ethische Diskussionen im Hinblick auf (moderne) Wissenschaft und ihre Protagonisten schon längere Zeit Gegenstand gesellschaftlicher Debatten, werden insbesondere seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts[3] vermehrt geführt und ebneten den Weg zur Enthüllung verschiedener Skandale, vielfach auch angestoßen durch die systematische Involvierung von Wissenschaft und Industrie in NS-Verbrechen seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges[4].
Der Fall Gross: NS-Kontinuitäten im Nachkriegsösterreich
Im Hinblick auf Österreich ist eines der bekanntesten Beispiele in der Frage nach ethischer Verantwortlichkeit von Wissenschaft jenes des Psychiaters Heinrich Gross, der nach dem Zweiten Weltkrieg als Gerichtsgutachter für die österreichische Justiz weiterhin tätig war. Gross half in den Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft skrupellos mit, psychisch kranke, behinderte oder einfach nur verhaltensauffällige Kinder der Jugendanstalt „Am Spiegelgrund“ im Rahmen der NS-Euthanasie-Aktion T4 zu ermorden oder zu misshandeln.[5] Dabei war er jedoch nicht nur ein Handlanger von vielen, sondern als Abteilungsleiter eines medizinischen Pavillons tief und maßgeblich in diese Gräueltaten involviert. In den 1970er Jahren begutachtete er eines der überlebenden Kinder vom Spiegelgrund wieder – nun bereits erwachsen wurde der Überlebende Friedrich Zawrel[6] erneut Opfer des ehemaligen NS-Arztes und konnte erst 1981 aus jener Haft befreit werden, in die ihn Gross fünf Jahre zuvor gebracht hatte.[7] Auch wenn Zawrel – nur mittels publizistischer Unterstützung und unter Mithilfe des Drucks der Öffentlichkeit – auf sich und sein Schicksal aufmerksam machen konnte, so war der Tätigkeit von Gross kein Ende beschieden. Dass der Psychiater trotz Bekanntwerden seiner NS-Vergangenheit weiter als Gerichtsgutachter tätig sein konnte und sogar lange an den Gehirnen ermordeter Kinder weiterforschte, ist eines der dunkelsten Kapitel der österreichischen Nachkriegsgeschichte. Verantwortung für sein Handeln wurde hier vonseiten des Arztes nicht einmal ansatzweise übernommen, was aber ohne ein Netz an wegsehender oder Gross protegierender Institutionen und Personen nicht möglich gewesen wäre. Es zeigte einmal mehr, wie glimpflich insbesondere im Wissenschaftsbereich entnazifiziert[8] wurde und wie lange die Kontinuität von NS-Wissenschaftlern reichte, die unbekümmert mit eben jenen Materialien arbeiteten, die in den Verbrechen des Dritten Reiches ihren Ursprung hatten. Es zeigt aber gleichzeitig, dass Wissenschaftler sich auch inhaltlich und konzeptuell nicht von der NS-Forschung lösten, sondern unverändert in den gleichen Fahrwassern weiterforschten. Heinrich Gross war dabei wahrlich kein Einzelfall.
Wissenschaft und Totalitarismus
Hier kommt ein für Universitäten und Akademien sehr unangenehmer Aspekt ins Spiel: Mit der Frage nach der belasteten Geschichte wissenschaftlicher Ideen, Konzepte und Theorien steht am Ende möglicherweise nicht weniger als die Wissenschaftlichkeit selbst auf dem Prüfstand. Dies gilt natürlich übergeordnet immer auch für die Gegenwart: Wie viel Politisierung, wie viel Ideologie verträgt die Wissenschaft? Und kann man ideologisierte Teile wissenschaftlicher Inhalte in totalitären Regimen von seriösen Inhalten überhaupt noch unterscheiden? Oder muss man einzelne Disziplinen mitunter völlig als Pseudowissenschaft(en) identifizieren?
Diese Fragen sind immer von Fall zu Fall zu beantworten. Während etwa die meisten Aspekte der biologischen Rassentheorien und ihre juridischen Auswüchse in Form der Nürnberger Rassengesetze aus wissenschaftlicher Sicht nicht haltbar und als abwertend-rassistisch einzustufen sind[9], so war etwa die NS-Krebsforschung der erste Forschungszweig, der das Rauchen eindeutig mit Krebs in Verbindung brachte und sich damals international in einer Spitzenposition befand[10].
Ähnliche Problemlagen finden sich aber natürlich nicht nur hinsichtlich des Nationalsozialismus, sondern grundsätzlich in den unterschiedlichsten totalitären Regimen, egal ob kommunistisch, nationalsozialistisch oder realsozialistisch. Auch im Fall des Terrorregimes der DDR und involvierter Wissenschaftler und/oder Politiker, die nach dem Mauerfall ungehindert weiterforschten bzw. im neuen System problemlos Fuß fassten gibt es viele Beispiele personeller und auch institutioneller Kontinuitäten ohne jegliche Brüche. Es gab aber etwa in Bezug auf die DDR auch jene Wissenschaftler, die als wissenschaftliche Ressourcen nach dem Zweiten Weltkrieg zwangsweise in die UDSSR deportiert und danach wieder in die DDR rückgeführt wurden[11], weswegen man aufpassen muss, da der Begriff Involvierung am Ende jeweils etwas anderes bedeuten kann.
Belastete Materialien
Was macht man nun aber mit wissenschaftlichen Sammlungen, deren Entstehungszusammenhang verbrecherischer Natur ist oder aus heutiger Sicht in dieser Weise zumindest ethisch untragbar wären? Was macht man etwa mit linguistischen Sprachaufnahmen von Kriegsgefangenen, welche anthropologischen, zugleich aber rassistischen Erkenntnisse zog man aus der Erforschung indigener Völker im Zuge des Imperialismus und Kolonialismus und – weiterführend – wie sind große Entdecker und Weltreisende der vorigen Jahrhunderte nun in ihren „Heldentaten“ zu bewerten? Gibt es in wissenschaftlichen Sammlungen kostbarer Kulturgüter, Artefakte oder Präparate Raubgut, das mit Gewalt verschleppt und anderen Besitzern (Stichwort Arisierung) entrissen wurde? Gerade bei NS-Raubgut haben sich z.B. im Bereich der Kunstgeschichte Restitutionsexperten und Provenienzforscher seit vielen Jahrzehnten mit der Rückführung und der Herkunft gestohlener Artefakte beschäftigt. Auch bei diesem Thema kann man erkennen, dass jeder Fall gesondert betrachtet werden muss und jeweils anders gelagert ist: Geraubte Kunstwerke, die den früheren Besitzern entrissen wurden, sind anders zu bewerten als medizinische Sammlungen ermordeter und gequälter Kinder; während sich im ersten Fall das Kunstwerk (Artefakt) selbst nicht als solches disqualifiziert, so ist es im zweiten Fall ethisch nicht vertretbar, ermordete Personen für Forschungszwecke weiter zu verwenden, es sei denn, es dient der Aufarbeitung ebendieser Verbrechen und unethischen Kontexte.
Unabdingbar ist in einem ersten Schritt der Aufarbeitung der Geschichte von wissenschaftlichen Disziplinen und deren Artefakten eine umfassende, kritische und lückenlose historische Kontextualisierung.
Dies meint, dass wissenschaftliche Inhalte, Ergebnisse, Artefakte mit anderen Inhalten in Beziehung gesetzt, der biographische, politische und institutionelle Zusammenhang von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern erfasst und all diese Aspekte vor dem Hintergrund der Geschichte beschrieben und analysiert werden. Wo haben wissenschaftliche Akteure wann und wieso gearbeitet? Wie lange haben sie dort gearbeitet? Welche Netzwerke haben sie aufgebaut, welche Netzwerke haben sie genutzt? Welche Feinde hatten sie? Wo waren sie Mitglied und welche Überschneidungen gab es zu politischen Parteien, Funktionären, Akteuren? In welchen Diensten, unter welcher Agenda haben sie operiert?
Wissenschaftshistorisch gute Arbeit ist es, möglichst viele dieser Fragen zu beantworten.
Die Wissenschaftsethik, in Verhandlung mit den betreffenden Disziplinen und der Gesellschaft/Öffentlichkeit muss anschließend prüfen, was dies in weiteren Schritten bedeutet und welche Konsequenzen sich daraus für die (betreffende) Wissenschaft ergeben. Die wissenschaftlichen Disziplinen selbst sind angehalten, den Blick in die Vergangenheit ebensowenig zu scheuen, wie die ethische Beurteilung ihrer Arbeit in der Gegenwart.
Und es würde vielen Wissenschaften guttun, eine solche historische Einordnung von Daten, Materialsammlungen und Artefakten noch ernster zu nehmen, als dies der Fall ist; nicht wenige wissenschaftliche Disziplinen haben ein geringes Wissen um die Umtriebe ihrer historischen Vorgänger und Protagonisten oder konzeptualisieren ihre Forschung weitgehend ahistorisch, ohne diese Aspekte zu berücksichtigen.[12]
Wissenschaftshistorische Zusammenhänge stehen kaum in den Curricula der jeweiligen Studien oder werden allenfalls oberflächlich in Einführungsvorlesungen behandelt. Dies betrifft auch die Sprachwissenschaft, insbesondere die Dialektologie des Deutschen (also die Lehre von den deutschen Mundarten), mit deren Geschichte ich mich seit fast zehn Jahren intensiv beschäftige und deren Rolle im Nationalsozialismus ich in einem folgenden Blog-Eintrag noch eingängig behandeln werde. Denn gerade in der Dialektforschung sind die Fragen um wissenschaftliche Verantwortung vonseiten der Disziplin selbst bis heute weitgehend unbeantwortet geblieben. Dies sollte sich ändern.
[1] Dies betrifft verschiedene Themen, etwa Fragen um Datenschutz und die Wahrung von Persönlichkeitsrechten, Urheberrechtsfragen, die Frage nach der Möglichkeit von Tierversuchen, Problemlagen in der Genforschung und Reproduktionsmedizin usw. usf. In der Regel (Im Idealfall) beschäftigen sich nationale/ internationale universitäre Ethikkommissionen, Historikerkommissionen oder juristische Berater mit solchen Sachverhalten. [2] Insbesondere das Horror- und Thriller Genre befasste sich sowohl filmisch als auch literarisch vielfach mit dem Schrecken und der Hybris entgleister Forschung. Mary Shelleys „Frankenstein“ (1818), David Cronenbergs „The Fly“(1986) oder H.G. Wells „Die Insel des Dr. Moreau“ (1896) sind nur wenige von vielen künstlerischen Bearbeitungen der Thematik. [3] Ein wesentlicher Markierungspunkt ethischer Diskussionen ist die Zeit ab der Menschenrechtscharta der Vereinten Nationen (1948), die natürlich eine Reaktion auf die Ereignisse des Zweiten Weltkriegs darstellte. [4] Ich spiele hier auf den Fall der Involvierung der I.G. Farben in Menschenversuche und Zyklon B-Lieferungen an Konzentrationslager an. Die IG Farben war ein Zusammenschluss von acht deutschen Pharma- und Chemiekonzernen, die maßgeblich vom Nationalsozialismus profitierten und sich ab 1947 im I.G.-Farben-Prozess vor dem US-Militärgericht verantworten mussten. Vgl. Stephan H. Lindner: Aufrüstung – Ausbeutung – Ausschwitz. Eine Geschichte des I.G.Farben-Prozesses. Wallstein 2020. [5] Vgl. Waltraud Häupl: Die ermordeten Kinder vom Spiegelgrund. Gedenkdokumentation für die Opfer der NS-Kindereuthanasie in Wien. Böhlau Verlag 2006. Für eine kritische Aufarbeitung der Thematik aus dem Inneren neurologischer Forschung vgl. Florian P. Thomas u.a.: “A Cold Wind is Coming”: Heinrich Gross and Child Euthanasia in Vienna. In: Journal of Child Neurology. Vol 21/4, April 2006, S.342-348. Vgl. auch Eberhard Gabriel: NS-Euthanasie in Wien. Böhlau Verlag 2000. [6] Vgl. https://www.nationalfonds.org/friedrich-zawrel , abgerufen am 16.10.2021. [7] Vgl. Oliver Lehmann: In den Fängen des Dr. Gross: Das misshandelte Leben des Friedrich Zawrel. Czernin Verlag 2001. [8] Vgl. Hans Pfefferle und Roman Pfefferle: Glimpflich entnazifiziert. Die Professorenschaft der Universität Wien von 1944 in den Nachkriegsjahren. V&R unipress 2014. [9] Vgl. Naika Foroutan u.a.: Das Phantom „Rasse“: Zur Geschichte und Wirkungsmacht von Rassismus. Vandenhoeck & Ruprecht 2018. [10] Vgl. Robert N. Proctor: The Nazi war on Cancer. Princeton University Press 2000. [11]https://www.stasi-unterlagen-archiv.de/informationen-zur-stasi/themen/beitrag/ueberwachte-wissenschaft/ , abgerufen am 04.10.2021. [12] Vgl. Jan David Zimmermann (In Druck): „Die Sprache(n) auf der Karte. Konstruktion von Geschichtlichkeit in der Dialektkartographie des Deutschen zwischen Cisleithanien und Erster Republik“, in: Post Empire. Habsburg-Zentraleuropa und die Genealogien der Gegenwart (hgg. von Johannes Feichtinger und Heidemarie Uhl).
Ein wichtiger Impuls a) zur Selbstreflexion für alle, die Wissenschaft betreiben; b) zur Kritik an jedweder naiver Wissenschaftsgläubigkeit.